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5. Fortbewegung

Spezialisation der Fortbewegung zur Erschliessung von Futterquellen

Gibbons sind rein baumlebend und haben eine hochspezialisierte Fortbewegung entwickelt. Die meisten ihrer anatomischen Spezialisationen (zum Beispiel die extreme Verlängerung der Arme und Hände) können als anatomische Korrelate mit dieser Fortbewegung interpretiert werden.

Die meisten Primaten halten sich vorwiegend in Bäumen auf. Diese bieten ihnen Schutz und Sicherheit, dienen ihnen als Schlafplatz und als Nahrungsquelle. Der Gibbon hat sich in dieser Nische noch zusätzlich spezialisiert, um der Nahrungskonkurrenz durch andere Tiere auszuweichen: er ist auf die äussersten Zweige der Bäume des südasiatischen Regenwaldes ausgewichen und ernährt sich von den dort wachsenden Früchten und Blättern; er betreibt sogenanntes "terminal branch feeding". Die wichtigsten Nahrungskonkurrenten, die ihm hierher folgen können, sind nur noch Vögel und deutlich kleinere Säuger (Hörnchen, Flughunde).

Um diese Nahrungsnische richtig ausnützen zu können, hat der Gibbon sein Fortbewegungsrepertoire gegenüber dem anderer Primaten in gleich zwei Richtungen spezialisiert: Brachiation (Schwinghangeln) und Bipedes Gehen (zweibeinig aufrechtes Gehen).

Brachiation

Die Brachiation (Abbildung 5.1) dient dem Gibbon einerseits als Fortbewegung, andererseits befähigt sie ihn dazu, ein Geäst vollständig abzuernten. Während die meisten baumlebenden Affen sich beim Fressen darauf beschränken müssen, auf dem Substrat (z.B. Ast) zu stehen oder zu sitzen, kann der Gibbon auch unter dem Substrat hängend Früchte oder Blätter erreichen, was seine Ausbeute pro Ast beträchtlich erhöht. Tiere, die sich gehend in die Astspitzen hinauswagen, drücken mit ihrem Gewicht den Ast von sich weg. Dies erschwert die Nahrungsaufnahme. Dagegen beugt sich der Ast, an dem ein Gibbon hängt, zu dessen Körper hin, was das Pflücken von Früchten und Blättern erleichtert (Abbildung 5.2).

 Weisshand-Gibbon (H. lar): Langsame Brachiation

Abbildung 5.1. Weisshandgibbon (H. lar): Langsame Brachiation (nach einer Fotoserie in Eimerl & DeVore, 1969, pp. 72-73).

 Bewegungsspielraum beim Fressen: a. Makak, b. Gibbon

Abbildung 5.2. Bewegungsspielraum beim Fressen: a. Makak, b. Gibbon (nach Grand, 1972, p. 198).

Das Schwinghangeln erlaubt eine sehr schnelle Fortbewegung, es können grössere Baumlücken überwunden werden, und das Gewicht kann auf weit auseinanderliegende Äste verteilt werden. In der hängenden Haltung ist der Gibbon zudem ständig im stabilen Gleichgewicht, während Primaten, die auf beinen stehen, normalerweise Energie investieren müssen, um nicht umzufallen.

Anatomische Anpassung

Anatomische Anpassungen an die Brachiation finden sich vor allem in den oberen Gliedmassen. Die lange, hakenförmige Hand mit sehr kräftigen Fingerbeugern ist von Vorteil, um den Körper während des Schwingens tragen zu können.

Die auffälligste Anpassung sind die langen Arme. Sie ermöglichen beim Schwingen einen schnelleren Start und eine grössere Beschleunigung. Die Bewegung während der Brachiation lässt sich am ehesten mit einem Pendel vergleichen und folgt auch dessen physikalischen Eigenschaften.

Die zusätzliche Drehung des Körpers erzeugt starke Torsionskräfte im Oberarm. Um diesen etwas entgegenzuwirken, ist der Gelenkkopf des Oberarmes beim Gibbon nicht so stark nach vorne gedreht wie bei anderen Menschenaffen und beim Menschen. Dies verleiht ihm ein sehr typische ruhende Sitzstellung mit zur Seite hängenden Armen (Abbildung 5.3).

 Weisshandgibbon (H. lar) in Ruhestellung mit eingezeichnetem Schultergelenk

Abbildung 5.3. Weisshandgibbon (H. lar) in Ruhestellung mit eingezeichnetem Schultergelenk. Durch die gering ausgebildete Torsion des Oberamknochens wirkt der Arm nach aussen gedreht (nach Larson, 1988, pp. 457 und 458).

Bipedes Gehen

Gibbons gehen häufiger zweibeinig aufrecht als alle anderen nicht-menschlichen Primaten. Diese Fortbewegungsart macht 10% ihres Verhaltensrepertoires aus. Die Bipedie von Mensch und Gibbon ist oft miteinander verglichen worden, weil man sich dadurch Hinweise darauf erhofft, unter welchen selektiven Bedingungen sich Bipedie entwickeln kann.

Anatomische Anpassung

Um beim aufrechten Gehen zu verhindern, dass der ganze Körper mit jedem Schritt rotiert, ist eine gegenläufige Verdrehung des Oberkörpers unerlässlich. Diese Rotation des Oberkörpers findet beim Menschen im Brustbereich statt, beim Gibbon hingegen in der Hüfte, was seinen Gang schwerfälliger aussehen lässt.

Völlig aufrechtes Stehen ist dem Menschen nur dank zweier spezieller Beugungen in der Wirbelsäule möglich, der sogenannten Lordosen. Dadurch kommt der Körperschwerpunkt über der Auflagefläche (den Füssen) zu liegen. Der Gibbon löst dieses Problem, indem er sowohl in der Hüfte wie in den Kniegelenken gebeugt steht (Abbildung 5.4). Die gebeugten Kniegelenke helfen ihm zusätzlich, die Kräfte der Vorwärtsbewegung beim Schreiten abzufedern, was bei Menschen durch das Abrollen des Fusses geschieht.

Zweibeinige Fortbewegung beim Menschen und beim Gibbon 

Abbildung 5.4. Umrisszeichnungen und Stabdiagramme der zweibeinigen Fortbewegung beim Menschen (oben) und beim Gibbon (unten) (nach Okada, 1985, p. 50; und Yamazaki & Ishida, 1984, p. 565). Der Gibbon zeigt eine deutliche Beugung von Hüft- und Knieglenken beim Gehen.

Trotz seiner schnellen Schritte bewegt sich der Gibbon langsamer vorwärts als der Mensch, was vor allem auf die kleinere Schrittlänge zurückzuführen ist.

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