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Einführung
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9. Gibbon-Forschung im Wandel der Zeit |
Die Art und Weise, wie die Wissenschaft sich mit Primaten auseinandersetzt, hat sich im Lauf der Zeit verändert. Dies wird hier am Beispiel der Gibbons verdeutlicht, entspricht aber einem allgemeinen Trend.
Bis in die erste Hälfte dieses Jahrhunderts gründete unser Wissen über die Biologie der Gibbons fast ausschliesslich auf Berichten von Jägern oder auf Beobachtungen, die an einzeln in Gefangenschaft lebenden Gibbons gemacht wurden.
In den frühen Berichten sind Fabel und Wirklichkeit oft nur schwer auseinanderzuhalten. So wurden auch in wissenschaftlichen Arbeiten immer wieder Berichte zitiert, wonach Gibbons in riesigen Herden von 100-150 Tieren lebten. Gibbons kletterten angeblich auch von den Bäumen herabstiegen, um Menschen zu bedrohen und sogar zu Fuss durch den Wald zu verfolgen und tätlich anzugreifen (Owen, zitiert in Blyth, 1844; Miller, 1778).
Gibbons gerieten, wie bereits erwähnt, meist als Jungtiere in Gefangenschaft, indem die Elterntiere abgeschossen wurden. Da über die Ernährung und die Bedürfnisse von Gibbons wenig bekannt war, erreichten Gibbons in Gefangenschaft selten das Erwachsenenalter, und Zuchterfolge blieben noch bis in die sechziger Jahre eine grosse Sensation. Sogar beim Siamang, der in Zoos relativ häufig zu sehen ist, gelang erst 1962 erstmals die Nachzucht in einem Zoo (Speidel, 1963).
Die Forschung konzentrierte sich typischerweise auf die Systematik und die Anatomie der Gibbons, wobei viele zeitgenössische Darstellungen belegen, wie wenig man sich über das Fortbewegungs- und Positionsverhalten dieser Tiere im Klaren war (Abbildung 9.1).
Abbildung 9.1. Quadrupede Skelettrekonstruktion eines "Gibbon Varié"; vermutlich Hylobates lar (aus De Blainville, um 1841, Tafel II).
Die Asiatic Primate Expedition (A.P.E.) war die grösste und gleichzeitig eine der letzten Expeditionen zur Erlegung von Affen zu wissenschaftlichen Zwecken (Abbildung 9.2): Sie wurde von mehreren amerikanischen Universitäten und Museen gemeinsam organisiert. In ihrem Verlauf wurden 1937 nördlich von Chiengmai (in Siam, dem heutigen Thailand) unter anderem 146 Gibbons erlegt, mehr als jemals zuvor in einer einzelnen Expedition. Die an diesen Tieren erhobenen Daten wurden zum Inhalt einer Monographie und zahlreicher weiterer Veröffentlichungen über die Variabilität und die Altersveränderungen bei Gibbons (z.B. Schultz, 1944).
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Abbildung 9.2. Links: Träger der A.P.E.-Expedition rasten während dem Marsch zum Basislager nördlich von Chiengmai (aus Carpenter, 1940, S. 25). Rechts: Adolph H. Schultz vermisst zwei frisch erlegte Gibbons im Basislager in Chiengmai (A. H. Schultz-Archiv, Anthropologisches Institut der Universität Zürich).
Gleichzeitig wurde während dieser Expedition auch die erste systematische Freilandstudie über das Verhalten der Gibbons durchgeführt (Abbildung 9.3). Clarence R. Carpenter beobachtete und dokumentierte während drei Monaten das Leben der Gibbons und beschrieb in einer Monographie richtig die Nahrungszusammensetzung, das Individualverhalten, die monogame Sozialstruktur und das Territorialverhalten der Gibbons (Carpenter, 1940).
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Abbildung 9.3. Links: Clarence R. Carpenter beobachtet Gibbons in Chiengmai; rechts: C. R. Carpenter mit dem Parabolspiegel-Mikrophon, mit Hilfe dessen in Chiengmai erste Tonaufnahmen von freilebenden Gibbons auf Schallplatten gebannt wurden (aus Carpenter, 1940, S. 26).
Die A.P.E.-Expedition markiert einen Paradigemnwechsel der Primatenforschung: das Ende der grossen Museumsexpeditionen und den Beginn der Freilandbeobachtungen.
In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts wurden an vielen Gibbonarten ein- oder sogar mehrjährige Freilandstudien durchgeführt. Die akademische Laufbahn wird zunehmend durch den "publish or perish"-Imperativ dominiert. Entsprechend hat seit 1950 hat die Zahl der Veröffentlichungen über Gibbons exponentiell zugenommen (siehe unten: Abbildung 9.7).
Leider wurden die Gibbons aber nicht nur wissenschaftlich "erschlossen", sondern im selben Zeitraum von der menschlichen Zivilisation überrollt. Die meisten Gibbonarten sind heute vor allem durch den Habitatsverlust, aber auch durch Bejagung in ihrem Fortbestand bedroht (Abbildungen 9.4 und 9.5).
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Abbildung 9.4. Links: Die Urwaldreste in den Ailao Bergen der südwestchinesischen Yunnan Provinz bilden eines der letzten Rückzugsgebiete des westlichen schwarzen Schopfgibbons (Nomascus concolor). Rechts: Der Oberlauf des Black River liegt nur wenig nördlich von diesem Waldstück und war noch in historischen Zeiten bewaldet und von schwarzen Schopfgibbons (N. concolor) bewohnt. Das Bild dokumentiert das Schicksal der meisten indochinesischen Wälder: Die ganze Landschaft ist entwaldet und die Böden deutlich sichtbar der Erosion ausgesetzt, welche dazu führt, dass die Humusschicht bald abgetragen ist und eine Wiederbewaldung in absehbarer Zeit unmöglich wird (Fotos: T. Geissmann, 1990).
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Abbildung 9.5. Links: Waffen und erlegte Beutetiere (Flughörnchen), die während eines Gibbon-Surveys im Bawangling Reservat von gestellten Wilderern konfisziert wurden. In diesem Reservat auf der südchinesischen Insel Hainan leben die letzten Hainan-Schopfgibbons; die Population zählte weniger als 20 Tiere, als diese Aufnahme gemacht wurde, während gleichzeitig mindestens 10 Wilderer im Park auf der Jagd waren (Foto: T. Geissmann, Oktober 1993). Rechts: Junge Gelbwangen-Schopfgibbons (N. gabriellae) auf einem Tiermarkt in der Nähe von Saigon zum Verkauf angeboten (Foto: J. Adler, 1988). |
Mit dem zunehmenden Interesse der Wissenschaft an der enormen biologischen Vielfalt der tropischen Regenwälder und der Bedeutung dieser Wälder für den Wasserhaushalt der Erde wächst nicht nur die Erkenntnis, wie viel davon durch menschliche Eingriffe unwiederruflich zerstört wurde und immer noch wird, sondern auch die Angst vor den Folgen dieser Zerstörung (Abbildung 9.6).
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Entsprechend konzentriert sich die Gibbonforschung seit den letzten 30 Jahren deutlich auf die Schwerpunkte (1) Ökologie / Freilandforschung und (2) Erhaltungsbiologie, Schutz- und Naturschutzprojekte (Abbildung 9.7). Die Erhaltung der Gibbons und ihres Habitats wird zunehmend als das wichtigste und dringendste Forschungsanliegen erkannt.
Abbildung 9.7. Proportionale Verschiebung von Forschungsinhalten in den letzen 300 Jahren, ermittelt anhand von 2600 Veröffentlichungen über Gibbons. Obwohl die Erhaltungsbiologie sich erst seit den 50-er Jahren in Publikationen manifestiert, ist sie heute bereits das dritthäufigste Thema aller Veröffentlichungen über Gibbons und wird darin nur noch übertroffen von verhaltensbiologisch oder ökologisch orientierten Arbeiten, beides Arbeitsbereiche, welche ebenfalls stetig an Bedeutung zunehmen.
Anatomische und physiologische Fragestellungen gingen deutlich zurück, während
die Arbeiten zur Systematik sogar völlig zu verschwinden drohen. Das Aussterben
ganzer Forschungsbereiche ist allerdings nicht unproblematisch. Aufgrund unseres
momentanen Wissensstandes ist die Identifikation der meisten Gibbonunterarten ohne
Herkunftsangabe des Individuums unmöglich, und die Verbreitungsgrenzen vieler
Formen sind unzulänglich bekannt. Da die Unterarten selbst der in den Zoos am
häufigsten anzutreffenden Gibbonart, des Weisshandgibbons (Hylobates lar)
nicht verlässlich bestimmt werden können, bedeutet dies, dass die gesamte
Zoopopulation des Weisshandgibbons seit Generation aus Unterartmischlingen besteht.
Für etwaige zukünftige Wiederansiedlungsprojekte selten gewordener lokaler
Gibbonpopulationen sind diese Zootiere damit wertlos. Dies gilt genauso für
diverse andere Gibbonarten. Wir können davon ausgehen, dass es sogar noch unentdeckte
Gibbontaxa gibt. Solange diese nicht bekannt sind, kann auch ihr Schutz nicht vorangetrieben
werden. Systematik ist als Forschungszweig so relevant wie eh und je.
Dies ist kein gibbon-spezifisches Problem. Diese Kenntnislücken der Systematik
erschweren grundsätzlich die Erfolgsaussichten der erhaltungsbiologischer Bemühungen.
Unterschiedliche Forschungsrichtungen wie Erhaltungsbiologie und Systematik sind
also nicht notwendigerweise voneinander unabhängig, sondern können voneinander
profitieren. Sie sollten als gleichermassen betrieben und gefördert werden.