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Einführung
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8. Die Gibbons in China |
Interaktionen zwischen Menschen und Gibbons haben in China eine lange Geschichte, die in zahlreichen historischen Dokumenten belegt wurde. Besonders im frühen China fanden Gibbons in der Literatur und der Malerei grosse Beachtung.
Als Haustiere gehaltene Gibbons erfreuten sich in China anscheinend schon immer grosser Beliebtheit, wie dies verschiedene alte Texte belegen, obwohl ein Sprichwort des Philosophen Huai-nan-tzû (gestorben 122 v. Chr.) warnt: "Wenn Du einen Gibbon in einen Käfig steckst, könntest Du Dir ebenso gut ein Schwein halten. Dies nicht, weil der Gibbon dann seine Geschicktheit oder Gewandtheit verlöre, sondern weil er dann keine Gelegenheit mehr hat, diese zu zeigen" (van Gulik, 1967, S. 40).
Die traditionelle Methode, einen Gibbon lebend zu fangen, bestand immer darin, zunächst ein Gibbonweibchen zu suchen, das ein Kind trägt. Das Muttertier wurde dann meist mit Pfeil und Bogen oder durch einem vergifteten Pfeil aus dem Blasrohr getötet und fiel dadurch auf den Boden. Das immer noch angeklammerte Junge wurde mitgenommen. Zwischen den auf wachsenden Gibbons und den Menschen entwickelten sich oft enge Beziehungen. So soll bereits ein König der Chou-Dynastie (d.h. Chuang-wang, 613-591 v. Chr.) einen ganzen Wald neben der Hauptstadt gerodet haben, um seinen entlaufenen Gibbon wiederzufinden.
Oft betrachtete man Gibbons als Symbole einer übernatürlichen, mysteriösen Welt, die dem menschlichen Alltag entrückt war. Nach taoistischen Vorstellungen, die bis 150 v. Chr. zurückverfolgt werden können, hatten die Gibbons die okkulte Macht, menschliche Gestalt anzunehmen und ihre Lebensdauer auf hunderte von Jahren auszudehnen. Selbst in späteren Dynastien galten sie den Chinesen als Vorbild für eine ideale menschliche Existenz und wurden in zahlreichen, unterschiedlich naturalistischen Bildern festgehalten (Abbildung 8.1).
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Abbildung 8.1. Links: "Gibbon greift nach Spinne", Fächerbild, 11 Jh., möglicherweise von Yi Yuanji (Museum des Kaiserpalastes, Beijing). Rechts: "Gefangener Gibbon und Früchte", frühes 17. Jh., Ming-Kopie eines Gemäldes von Yi Yuanji (11. Jh.) (Freer Gallery, Washington D.C.; aus Lovell, 1981, S. 65).
Es waren jedoch in erster Linie die Rufe der Gibbons, die einen tiefen Eindruck auf Dichter machten. Die Gibbongesänge (vor allem in den berühmten Yangtze-Schluchten) wurden in Gedichten häufig erwähnt. Die Gesänge wurden meist mit Traurigkeit in Ver bindung gebracht und wurden zum Symbol der Melancholie des Wanderers, der sich fern der Heimat aufhält.
Der Poet und Musiker Yüan Sung schrieb im 4. Jh. n. Chr (van Gulik, 1967, S. 46):
Traurig sind die Rufe der Gibbons in den drei Schluchten von Pa-tung.
Nach drei Rufen in der Nacht netzen Tränen die Kleidung [des Reisenden].
Der Kronprinz von Liang, Hsiao T'ung (501-531 n. Chr.), schrieb folgende Zeilen (van Gulik, 1967, S. 53):
Wenn die Gibbons rufen, zerreisst mein Inneres Stück um Stück.
Höre ich die Kraniche, rinnen meine Tränen Paar für Paar.
Die Kenntnis über Herkunft und Datierung der Gedichte und Gemälde ermöglicht die Rekonstruktion der früheren Verbreitung der Gibbons in China und belegt einen in der rezenten Geschichte der Primaten wohl beispiellosen Ver breitungsrückgang (Abbildung 8.2). Die geschriebenen und gemalten Dokumente zeigen, dass Gibbons im 10. Jh. über weite Teile Chinas verbreitet waren. Die nördliche Verbreitungsgrenze lag anscheinend etwa beim Gelben Fluss, also auf dem 35. Breitengrad (dies entspricht etwa der Breite von Kyoto in Japan). Nach dem 10. Jh. begann das Verbreitungsgebiet der Gibbons in Zentralchina zu schrumpfen und sich, wohl in erster Linie bedingt durch Bejagung und Habitatsverlust, nach Süden und Westen zu verlagern. Heute sind Gibbons in China nur noch in wenigen Reliktwäldern im Süden der Provinz Yunnan und - mit wenigen Individuen - auf der Insel Hainan verbreitet.
Abbildung 8.2. Historische Verbreitung der Gibbons in China und angrenzenden Regionen (nach Geissmann, 1995).
Die reichhaltigen Literatur- und Kunst-Dokumente aus der chinesischen Geschichte belegen auch, dass Gibbons damals in Gegenden lebten, in denen die Winter hart waren, und viele Dichter beschreiben Gibbons, die sie im Winter beobachtet haben. Li Po (701-762 n. Chr.) schrieb das folgende Kurzgedicht über Gibbons aus der südlichen Anhui Provinz (van Gulik, 1967, S. 61):
Die Pracht der Berge erschaudert unter dem angehäuften Schnee,
Wie Schatten hängen die Gibbons von den kalten Ästen.
Im Gegensatz zu den heute lebenden Gibbons, deren Verbreitung sich auf tropische, subtropische und einige Bergwälder beschränkt, lebten diese chinesischen Gibbons in deutlich kühleren Klimazonen. Wir wissen nicht, was das für Gibbons waren, und ihre Ausrottung lässt viele Fragen offen: Wie konnten Gibbons in laubwerfenden Wäldern leben, wie konnten sie den Winter überstehen, was assen sie, welche Sozialstruktur hatten sie? Diese Fragen werden sich vermutlich nie beantworten lassen.